Der Brodwurscht-Fauxpas

In der Ostschweiz, wo Cocolina mit Herrn K. wohnen darf, gibt es eine Spezialität, die St. Galler Bratwurst. Das ist beileibe keine schnöde Wurst – ei nein, eher angebracht wäre hier der Begriff „Kultobjekt“.

Liebevoll wird dieses regionale Heiligtum hierzulande „Brodwurscht“ genannt, und bei keiner Veranstaltung, egal ob privat oder öffentlich, bei der Geburtstagsfeier oder auf der Messe, darf sie fehlen – genauso wenig wie das „Bürli“ dazu. (Zur Klärung: Ein Bürli ist kein armes kleines Bäuerlein, dem die hungrigen Schweizer zu Leibe rücken, sondern ein wunderbar knuspriges Brötchen.) Sogar eine eigene Website hat die Brodwurscht: http://www.sg-bratwurst.ch. Zitat gefällig? „… ein Leben in der Ostschweiz ohne St.Galler Bratwurst ist undenkbar! Sie, die liebste Freundin der Ostschweizerinnen und Ostschweizer ist immer und überall mit von der Partie. Das war schon immer so, das wird immer so bleiben. Und das ist gut so!“ Besser könnte selbst Cocolina das Verhältnis Ostschweiz – Brodwurscht nicht beschreiben.

Brodwurscht (c) http://www.sg-bratwurst.ch
(c) http://www.sg-bratwurst.ch

Cocolina weiss um den liebevollen Kult, den ihre neuen Landsleute – und auch die gesamte Familie K. – um dieses veredelte Kalb treiben. Daher stand natürlich Brodwurscht auf dem Speiseplan, als Cocolina diese Woche ein paar ehemalige Arbeitskollegen einlud. Die Brodwurscht ist nämlich nicht nur bei allen beliebt, sondern hat für die Hausfrau auch den unschätzbaren Wert, dass man den Herrn des Hauses an den Grill stellen und Brodwürscht en masse zubereiten lassen kann, während man selbst die Vorbereitungen für das gemeinsame Mahl abschliesst. Und ausserdem konnte Cocolina so ihre „Swissness“ einmal mehr unterstreichen!

Als gute Hausfrau hat Cocolina die Vorbereitungen also zeitgerecht abgeschlossen. Glühwein und alkoholfreier Punsch köcheln leicht am Herd; massenweise Bürli und kiloweise Kartoffelsalat stehen parat; und die Brodwürscht sind bereits kunstvoll eingeschnitten, als der Herr K. ein paar Minuten vor den ersten Gästen nach Hause kommt. Cocolina ist stolz – alles ist ja so perfekt…

Doch was ist das? Ein Blick von Herrn K. genügt, und blankes Entsetzen spricht aus seinen Augen, als er das Offensichtliche haucht: „Du hast die Brodwürscht eingeschnitten…“ Äh ja, natürlich. Weil sonst platzen die ja nachher auf dem Grill, oder?

„Brodwürscht darf man nur einstechen…“ Die Stimme von Herrn K. ist immer noch schwach, aber er hat sich anscheinend wieder etwas gefangen. Er weiss, das Leben mit einer Ausländerin hat seine schweren Momente hat – dies ist eindeutig einer davon.

Als praktisch veranlagter Mann übt er sich Schadensbegrenzung: „Wie viele von deinen Gästen sind denn Schweizer?“ Cocolina rechnet schnell nach – die meisten sind Deutsche und Österreicher, aber so ein paar Eidgnossen werden es wohl schon sein. Herr K. sieht das als kalkulierbares Risiko für den Ruf des Hauses, und Cocolina versucht, den Schaden mit einer Ausländerinnen-Charme-Offensive zu begrenzen, indem sie sich für das Missgeschick mit dem eingeschnittenen Bratwürsten entschuldigt, aber deutlich macht, dass sie immerhin keinen Senf auf den Tisch gestellt hätte.

Denn nur das Servieren desselben wäre ein noch ein größeres gesellschaftliches wie kulinarisches Fiasko! Die heiligen Brodwürscht sind nämlich so wohlschmeckend, dass es keiner weiteren Würze mehr bedarf – oder besser: Jede weitere Note würde den erlesenen Gout der Brodwurscht unwiderbringlich ruinieren. Das ist sicher nicht nur die Meinung in der Ostschweiz, sondern vermutlich irgendwo im Schweizer Gesetz verankert. Ergo verlangen nur unwissende kulinarische Banausen – allen voran Deutsche, Österreicher und Zürcher 😉 – einen Senf zur Brodwurscht.

Der Brodwurscht-Fauxpas hat dem schönen Abend im Kollegenkreis jedenfalls nicht geschadet. Köchin und Grilleur wurden mit Komplimenten überschüttet, und keine einzige Brodwurscht blieb übrig. Der Erfolg des Abends kann auch am Glühwein gelegen sein, aber das wäre jetzt eine andere Geschichte…

 

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